
Lawinenunfall Variante „Törli“ – Kapall, St. Anton am Arlberg
Vater und Sohn werden von einem jungen Berg- und Skiführer bei großer Lawinengefahr in eine bekannt exponierte Variantenabfahrt geführt und lösen eine Lawine aus, die den Führer und einen seiner Kunden tödlich verschüttet. Dass ein solcher Lawinenunfall unterschiedliche Reaktionen und Fragen von mehreren Seiten aufwirft, verwundert nicht. Auffallend war allerdings, wie viele Gerüchte und Vermutungen v. a. in der Skiführerszene zum Unfallhergang verbreitet wurden. Im Folgenden die nüchternen Fakten der Alpinpolizei, welche – wie immer – die einzelnen Schicksale hinter diesem Ereignis ausblenden.
Patrick Schweighofer
Polizeibergführer, PI Ischgl
An dieser Stelle sei die Bemerkung erlaubt, dass nach solchen – und allen anderen – Alpinunfällen gerade von alpinaffinen Menschen aus unserer Bergsport-Gemeinschaft vor allem Empathie für alle Betroffenen sowie Zurückhaltung bis zum Vorliegen der Fakten verlangt werden darf. Man möge sich in die Situation versetzen, selbst als Führer, Geführter oder Angehöriger mit verschiedensten Vermutungen zu „seinem“ Unfallhergang konfrontiert zu werden.
Sachverhalt
SAMSTAG, 4.2.2023
Gegen 10:00 Uhr fuhr eine dreiköpfige Skigruppe – zwei Kunden (Vater und Sohn) geführt von einem Berg- und Skiführer – in St. Anton am Arlberg vom Skigebiet „Kapall“ aus im freien Skiraum in nordöstliche Richtung ab.
Auf einer Höhe von ca. 2.130 Metern löste die Gruppe im ca. 35° steilen Gelände eine kleine Schneebrettlawine aus, wobei keiner der drei Skifahrer erfasst bzw. verschüttet wurde.
In weiterer Folge sammelte sich die Gruppe auf einer Geländekante im Einfahrtsbereich der Variantenabfahrt „Törli“ auf einer Höhe von ca. 2.060 Metern. Nach einer kurzen Einweisung, größere Abstände einzuhalten, fuhr der Berg- und Skiführer in die ca. 35 bis 40° steile Rinne ein. Diesem in großen Abständen folgend, fuhren dann auch seine zwei Kunden in die Rinne ein, wobei sich eine Schneebrettlawine löste, die den Berg- und Skiführer sowie den nachfolgenden Kunden (Sohn) ca. 350 bzw. 380 Meter weit mitriss und vollständig verschüttete. Der Letzte der Gruppe (Vater) konnte aus der Lawinensturzbahn ausfahren und sich so in Sicherheit bringen.
Er setzte mit seinem Mobiltelefon sofort einen Notruf ab und wurde vom ersteintreffenden Notarzthubschrauber „Gallus 3“ (Wucher Helicopter) unverletzt geborgen und in Sicherheit gebracht.
Im Zuge dieser Taubergung blieben der Notarzt und der Einsatzleiter der Bergrettung kurzzeitig am Lawinenkegel zurück. Der Bergretter konnte dabei ein LVS-Signal empfangen. Aufgrund der akuten Lawinengefahr wurden jedoch der Notarzt und der Bergretter sogleich wieder mittels Tau aus dem Gefahrenbereich geflogen.
Da sich der Lawinenkegel in einer Rinne befand, war ein sofortiger Sucheinsatz nicht möglich, denn aufgrund des angrenzenden Geländes bestand eine zu hohe Gefahr für die Einsatzkräfte. Das Einzugsgebiet der betroffenen Unfallstelle war zu weitläufig und zudem befanden sich zu viele Wintersportler in der Umgebung, sodass der Bereich nicht sogleich mittels Lawinensprengungen gesichert werden konnte.
Es folgte die Außerbetriebnahme der Seilbahnen in Richtung „Kapall“ sowie die Evakuierung von vier weiteren Wintersportlern, welche sich im Anrissgebiet der Unfalllawine aufhielten und nicht mehr weiterkamen.
Nachdem gegen 14:45 Uhr sichergestellt werden konnte, dass sich keine weiteren Personen im Einzugsgebiet aufhielten, konnten Lawinensprengungen durchgeführt werden. Es folgten größere, künstliche Auslösungen, wobei die Schneemassen in die Unfallrinne abgingen. Trotz mehrerer Sprengungen konnte der Bereich der Unfallstelle nicht vollständig gesichert werden. Experten – bestehend aus Lawinenkommissionsmitgliedern, Bergrettern, Alpinpolizisten sowie heimischen Bergführern – mussten die schwere Entscheidung treffen, dass an diesem Tag keine Rettungskräfte mehr auf den Lawinenkegel in der Rinne geflogen werden können. Zu groß war die Gefahr für die Rettungskräfte.
SONNTAG, 5.2.2023
Kurz nach 07:00 Uhr (Tagesanbruch) wurde die Suchaktion fortgesetzt. Nach einem Erkundungsflug wurde entschieden, dass Bergretter bzw. Alpinpolizisten mittels Tau auf den Lawinenkegel geflogen werden können. Bereits beim Eintreffen der ersten Rettungskräfte konnten die Signale der zwei Verschütteten mittels LVS geortet werden.
Um 09:12 Uhr wurde der Berg- und Skiführer in einer Tiefe von ca. 3,40 Metern ausgegraben. Es war keine Atemhöhle vorhanden, der linke Ski befand sich mit verriegelter Bindung am Skischuh und das LVS zeigte eine Verschüttungsdauer von 23 Stunden und 17 Minuten.
Sein verschütteter Kunde wurde um 09:51 Uhr wenige Meter oberhalb des Bergführers in einer Tiefe von 4,30 Metern aufgefunden. Sein Lawinenairbag war nicht ausgelöst. Bei beiden Vermissten konnte nur noch der Tod festgestellt werden.
Beide Opfer sowie alle Rettungskräfte wurden mittels Tau aus dem Gefahrenbereich geflogen, womit der Einsatz um 12:20 Uhr beendet werden konnte.
Die Angehörigen wurden laufend über den Stand der Suchaktion informiert und von der Polizei mit einem zugezogenen KIT-Team des Roten Kreuzes über das Ableben der Verschütteten verständigt.
Alle Erhebungen wurden abgeschlossen, da offenkundig sämtliche Verantwortung im Bereich des beim Unfall verstorbenen Berg- und Skiführers lag.
Unfallfakten
WETTER
Am Unfalltag herrschte leichte Bewölkung, an den Berghängen hielten sich zeitweise Nebelfelder. An den Tagen zuvor war Niederschlag mit viel Wind vorherrschend. Im gesamten Arlberggebiet waren deutliche Windzeichen an der Schneedecke ersichtlich, was auf eine erhöhte Schneeverfrachtung hindeutete.
LAWINENPROGNOSE
Der Lawinenlagebericht des Tiroler Lawinenwarndienstes (ausgegeben am 3.2.2023 um 17:00 Uhr) prognostizierte für den Unfalltag (4.2.2023) regional oberhalb der Waldgrenze aufgrund eines Neu- und Altschneeproblems die Lawinengefahrenstufe 4 (groß). Auch in allen anderen Regionen von Tirol war an diesem Tag oberhalb der Waldgrenze die Lawinengefahrenstufe 4 (der 5-teiligen Skala) ausgegeben.
Aus der Lawinenprognose für die Unfallregion:
Oberhalb der Waldgrenze große Lawinengefahr. Spontane Lawinen sind zu erwarten.
Aus hoch gelegenen Einzugsgebieten und an Triebschneehängen sind mit der Intensivierung der Schneefälle vermehrt mittlere und große spontane Lawinen zu erwarten.
Die Gefährdung bezieht sich vor allem auf alpines Schneesportgelände. Neu- und Triebschnee können an allen Expositionen sehr leicht ausgelöst werden, dies bereits durch einzelne Wintersportler. Die Gefahrenstellen sind weit verbreitet und auch für Geübte kaum zu erkennen. Vorsicht auch im Bereich der Waldgrenze sowie unterhalb der Waldgrenze.
Zudem können Lawinen auch in tiefe Schichten durchreißen. Solche Gefahrenstellen liegen im Steilgelände oberhalb der Waldgrenze. Fernauslösungen sind möglich. (…)
Schneedecke
Gefahrenmuster: gm.6: lockerer Schnee und wind / gm.1: bodennahe Schwachschicht
Die Schneedecke ist verbreitet instabil. Seit Donnerstag fielen verbreitet 30 bis 50 cm Schnee, lokal auch mehr. Der starke Wind hat den Neuschnee intensiv verfrachtet. Der viele Neuschnee und die während dem Schneefall entstandenen, teils großen Triebschneeansammlungen liegen an allen Expositionen auf weichen Schichten.
In der Schneedecke sind kantig aufgebaute Schwachschichten vorhanden, besonders an steilen Hängen oberhalb der Waldgrenze. In schattigen, windgeschützten Lagen ist die Schneedecke schwächer. Wummgeräusche und Risse beim Betreten der Schneedecke sind Hinweise für den schwachen Schneedeckenaufbau. Am Samstag fallen verbreitet 30 bis 40 cm Schnee, lokal auch mehr. Mit dem Sturm wachsen die Triebschneeansammlungen am Samstag weiter an.
Tendenz
Die Verhältnisse abseits der Pisten bleiben heikel. Die aktuelle Lawinensituation erfordert große Zurückhaltung.
LAWINE
Aufgrund der herrschenden Lawinengefahr am Unfalltag und auch an den folgenden Tagen, konnten am direkten Anrissbereich keine Schneedeckenuntersuchungen durchgeführt werden. Seitens des Lawinenwarndienstes Tirol wurden am Mittwoch, dem 8.2.2023, im Unfallgebiet Schneedeckenuntersuchungen durchgeführt. Unfallkausal war vermutlich – wie auch bei den anderen Ereignissen in dieser „Lawinenzeit“ – ein ausgeprägtes Altschneeproblem durch eine kantig aufgebaute Schwachschicht (auf ca. 65 cm) unter einer Schmelzkruste mit einem ausgeprägten Schneebrett aus kleinen rundkörnigen Kristallen darüber, das sich durch die Schneefälle mit Wind gebildet hat. Ein durchgeführter Stabilitätstest ergab eine sehr schwache Schneedeckenstabilität (ECTP11@65 cm).
Erste ausgelöste Lawine
→ trockene Schneebrettlawine
→ Anrissbereich ca. 2.130 m
→ 35°–40°
→ Exposition Ost
→ Anrisshöhe 30–50 cm
→ ca. 30 m breit und 40 m lang
Zweite ausgelöste Unfalllawine
→ trockene Schneebrettlawine
→ Anrissbereich ca. 2.060 m
→ 35°–40°
→ Exposition Ost
→ Anrisshöhe 50–80 cm
→ ca. 55–60 m breit und 550 m lang
NOTFALLAUSRÜSTUNG
Alle drei Beteiligten waren mit der vollständigen Lawinen-Notfall-Ausrüstung ausgestattet. Zusätzlich waren die beiden Kunden mit Lawinenairbag-Rucksäcken ausgerüstet, wobei der Verschüttete seinen Airbag nicht ausgelöst hat. Die Auffindung der Verschütteten erfolgte durch Ortung ihrer LVS.
Tödliche Lawinenunfälle in Tirol während der Lawinenzeit 3. – 6.2.2023
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Links & Publikationen:

- Dieser Beitrag ist im ÖKAS Fachmagazin analyse:berg Winter 2023/24 (Betrachtungszeitraum: 01.11.2022 bis 31.10.2023) erschienen.
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