
Das ABCDE-Schema ist eine im Rettungsdienst verwendete standardisierte Methode, um einen Notfallpatienten zu beurteilen und zu behandeln. In angepassten Varianten wird es auch Laien- und Ersthelfern vermittelt, um die ersten relevanten Erste-Hilfe-Maßnahmen setzen zu können, bis professionelle Hilfe vor Ort ist. Auch im alpinen Bereich wird dieser Algorithmus von immer mehr Organisationen geschult. Ein Mitgrund für diese Entwicklung im deutschsprachigen Raum ist Philipp Dahlmann. 2017 begann er und sein Autorenteam in der Zeitschrift bergundsteigen mit einer 13-teiligen (!) Erste-Hilfe-Serie ein Plädoyer für die Verwendung dieses Schemas für Bergsteigerinnen zu veröffentlichen. Bei diesen potenziellen Ersthelfern kam das Schema gut an – endlich hatten sie einen verständlichen Algorithmus, den sie abarbeiten konnten –, in der Fachwelt zunächst weniger: Zu kompliziert, zu komplex und überhaupt, werden da teilweise Dinge empfohlen, die von den Fachgremien so nicht beschlossen wurden. Stimmt, denn für uns Bergsteigerinnen und Bergführer gibt es keine Fachgremien, die sich Gedanken machen, wie wir im Gelände mit einem Verletzten umgehen. Inzwischen haben sich – fast – alle wieder lieb und arbeiten gemeinsam und konstruktiv. Allerdings gibt es immer noch kein xABCDE-Schema, das genau für Bergsteigerinnen und ihren Anforderungen gemacht wurde. So haben wir Philipp, der auch ÖKAS-Expertenmitglied ist, gebeten, ein solch maßgeschneidertes Schema zu formulieren und zu begründen. Das war längst überfällig und in analyse:berg wird das Autorenteam Katharina Helm und Philipp Dahlmann in den nächsten Ausgaben die einzelnen Punkte thematisieren. Doch starten wir zunächst mit einem Überblick über xABCDE.
Katharina Helm
NotSan HEMS und Praxisanleiterin (Deutschland),
B.Sc. Student Rettungspädagogik, PHTLS Instruktorin,
Trainerin in der ADAC HEMS Academy
Philipp Dahlmann
Dipl. Rettungssanitäter (Schweiz),
Post-Doc im Bereich Rettungswissenschaften
Vorab: Zielgruppe dieses Beitrages sind ÖKAS-Mitglieder und analyse:berg Leserinnen.
Wir gehen davon aus, dass diese bereits alpine Erste-Hilfe-Ausbildungen genossen haben und neugierig sind, Hintergründe zu verstehen und Dinge weiterzuentwickeln. Gemäß dem ÖKAS-Motto: „Wer nichts weiß, muss alles glauben“ (Marie von Ebner-Eschenbach).
Was ist xABCDE?
Um diese Frage zu beantworten, stellen wir die relevantesten Veröffentlichungen und deren Kernaussagen kurz vor:
xABCDE ist ein Schema in Akronymform, welches eine strukturierte und standardisierte Untersuchung und Versorgung ermöglich. Es ist für einfache und komplexe Ereignisse bzw. Notfälle gleichermaßen geeignet, um nichts zu vergessen oder zu übersehen. Dabei ist es bereits priorisiert.
👉 Schmid, B., Sauer, F. & Busch, HJ. Präklinische Ersteinschätzung am Einsatzort. Bundesgesundheitsblatt. 65, 979–986 (2022), https://doi.org/10.1007/s00103-022-03582-3
xABCDE ist eine Hilfestellung, um strukturierte Diagnostik und Therapie am Patienten zu machen.
👉 Peran, D., Kodet, J., Pekara, J. et al. ABCDE cognitive aid tool in patient assessment – development and validation in a multicenter pilot simulation study. BMC Emergency Medicine 20, 95 (2020), https://doi.org/10.1186/s12873-020-00390-3
xABCDE ist das Fundament bzw. die Grundlage für die effiziente Patientenversorgung. Es vereinfacht die interdisziplinäre Kommunikation, weil es sowohl prä-/außerklinisch als auch innerklinisch verwendet wird.
👉 Müller, HJ., König, H. & Prescher, T. Arbeitsprozessorientierung in der Berufsausbildung von Notfallsanitäter/ innen. Notfall Rettungsmedizin 23, 1–15 (2020), https://doi.org/10.1007/s10049-019-0612-2
Das xABCDE Schema ist empirisch bestätigt, hat somit eine Evidenz.
👉 Thim T., Krarup, Grove, Rohde, Løfgren B. Initial assessment and treatment with the Airway, Breathing, Circulation, Disability, Exposure (ABCDE) approach. International Journal of General Medicine, Vol. 5 (2012), https://doi.org/10.2147/IJGM.S28478
Warum macht xABCDE Sinn?
Notfallsituationen im alpinen Bereich stellen Privatpersonen, Rettungskräfte und medizinisches Personal vor komplexe Herausforderungen. Das Gelände, die allgemeinen Verhältnisse und aktuellen Wetterbedingungen erschweren den Zugang zum Verletzten und oft sind die verfügbaren Ressourcen limitiert.
Stress und Unsicherheit in Notfallsituationen können zudem dazu führen, dass wichtige Maßnahmen in der Patientenversorgung übersehen werden. Ein strukturierter und einfacher Handlungsrahmen wie das Akronym xABCDE hilft, standardisiert vorzugehen und freie kognitive Ressourcen im Handeln zu behalten und sich dabei auf das Wesentliche konzentrieren zu können.
Das Schema bietet die Möglichkeit, sowohl einfache als auch komplexe Situationen zielgerichtet abzuarbeiten, da es bereits die einzelnen Körperregionen nach ihrer Dringlichkeit priorisiert. Zudem wird durch diese Struktur sichergestellt, dass keine wesentlichen Aspekte übersehen oder vernachlässigt werden (Peran, et al. 2020 und Schmid, Sauer, Busch 2022).
Mithilfe des xABCDE-Schemas kann bei einer Situationsänderung einfach wieder von vorne bei A angefangen werden. Gerade bei einem Patienten, der während der Versorgung kollabiert bietet dies Handlungssicherheit (ERC-Guidelines).
Gleichzeitig fördert das standardisierte Vorgehen die interdisziplinäre Kommunikation zwischen prä-/außerklinischen und klinischen Akteuren, da das Schema universell angewendet wird (Müller, König und Prescher 2020). Auch hinsichtlich Ersthelfern und Ersthelferinnen (Kameradenrettung, BLSKräften wie bspw. Pisten- oder Bergretterinnen) und ALSKräften besteht eine gemeinsame Sprache, was im Besonderen für die Übergabe sehr wichtig ist.
Der vorliegende Beitrag beleuchtet die Anwendung des Schemas im Kontext von Alpinunfällen und dessen Nutzen als intuitive Handlungsanleitung.
Wofür steht xABCDE?
x (Exsanguination) kritische Blutung
Der Buchstabe x bezieht sich auf kritische arterielle oder venöse Blutungen, die umgehend gestillt werden müssen. Solche Blutungen, beispielsweise aus großen Extremitätenarterien, können innerhalb kürzester Zeit tödlich sein. Im Fokus stehen direkte Maßnahmen wie Druckverbände oder der Einsatz eines Tourniquets, um den Blutverlust unmittelbar zu stoppen.
A (Airways) Atemwege
Die Beurteilung und Sicherung der Atemwege ist der nächste Schritt im Schema. Hierzu gehört die Inspektion von Mund, Nase und Rachen auf Fremdkörper oder Blut, die Beurteilung der Schleimhäute (z. B. rosig, blass, feucht oder trocken) sowie die Feststellung von potenziellen Mundgerüchen (z. B. Alkohol). Bei schweren Verletzungen wird die Halswirbelsäule durch festes Halten (MILS) stabilisiert, um weitere Schäden zu verhindern.
B (Breathing) Atmung
Mit dem Buchstaben B erfolgt die Beurteilung der Atmung durch eine detaillierte Inspektion des Brustkorbs (Suche nach Hämatomen, einseitigen Thoraxbewegungen oder Einziehungen zwischen den Rippen).
Zusätzlich wird die Stabilität des Brustkorbs manuell überprüft. Atemfrequenz, Atemtiefe sowie mögliche Anzeichen für einen Spannungspneumothorax (z. B. respiratorische und kardiozirkulatorische Insuffizienz) oder andere ventilatorische Probleme werden evaluiert, um zeitnah intervenieren zu können.
C (Circulation) Kreislauf
Zur Beurteilung des Kreislaufs werden sowohl der Hautzustand (blass, rosig, trocken, feucht, erwärmt), als auch die Pulsfrequenz und -qualität bewertet.
Die Rekapillarisierungszeit (die bei gesunden Personen in der Regel unter zwei Sekunden liegt) zeigt, wie schnell Blut zurück in die Haut fließt. Sie hilft, den Zustand des Kreislaufsystems einzuschätzen – schnell und ohne Geräte. Weitere große Blutungsräume wie Bauch, Becken und Oberschenkel werden palpiert und inspiziert, um interne Blutungen zu detektieren.
D (Disability) Neurologischer Zustand
Die neurologische Evaluation im Buchstaben D umfasst die Prüfung des Bewusstseins (z. B. Glasgow Coma Scale oder AVPU-Schema), die Pupillenkontrolle sowie die Beurteilung von pDMS (periphere Durchblutung, Motorik und Sensibilität der Extremitäten).
Diese Parameter geben Hinweise auf mögliche SchädelHirn-Verletzungen, neurologische Defizite oder systemische Ursachen wie Hypoxie.
E (Exposure/Environment) Erweitern/Umgebung
Der letzte Buchstabe E im Schema schließt eine erweiterte (Ganzkörper-)Untersuchung und die Umgebungsfaktoren ein. Hierbei werden Anamnese, sichtbare Verletzungen und potenzielle Gefahrenquellen bewertet. Das Wärmemanagement ist im alpinen Umfeld besonders entscheidend, da Hypothermie eine häufige und potenziell lebensbedrohliche Komplikation darstellt. Auch können hier „in Ruhe“ weitere Verletzungen wie beispielsweise Prellungen, Schürfwunden u. s. w. versorgt werden. Durch das strukturierte Abarbeiten des Schemas besteht auch kaum ein Risiko, lebensbedrohliche Verletzungen/ Erkrankungen zu übersehen. D. h. wenn der Patient in ABCD stabil ist, dann kann ich mich um E kümmern.
Das xABCDE-Schema gewährleistet somit ein praxiserprobtes, systematisches Vorgehen zur schnellen und effektiven Beurteilung – auch ohne fancy Gerätschaften.
In Abb. 1 haben wir das Schema zusammengefasst und die Tabelle so gestaltet, dass auch und im Besonderen alpin relevante Untersuchungen, Red Flags und Schlüsselinterventionen erwähnt werden. Der in Erste-Hilfe ausgebildete Bergsteiger als Ersthelfer sollte mit diesen Inhalten vertraut sein, ebenso alle darüber liegenden alpinen Qualifikationen (Bergführer, Tourenleiter) und natürlich die Rettungskräfte vom Bergretter aufwärts.
Die Inhalte dieser Tabelle werden an dieser Stelle nicht näher aufgeschlüsselt, sondern in den nächsten analyse:berg-Ausgaben in Beiträgen zu jedem „Buchstaben“ des Schemas thematisiert.

Abb. 1: Angepasstes xABCDE-Schema für Laien-Ersthelfer bei Alpinunfällen.
Quelle: Dahlmann et al.
Fazit
Das Prinzip „Treat first what kills first“ verdeutlicht die Prioritätensetzung in der Versorgung lebensbedrohlicher Patientenzustände. Ein strukturiertes Vorgehen, wie es durch das xABCDE-Schema ermöglicht wird, sollte derart intensiv trainiert werden, dass es auch in hochstressigen Situationen intuitiv und fehlerfrei angewendet werden kann.
Während die Anwendung des Schemas subjektiv als einfach erscheinen mag, erfordert das Arbeiten danach eine kontinuierliche und gezielte Übung, um die notwendige Sicherheit und Effizienz in der Notfallversorgung zu gewährleisten.
Literaturverzeichnis
Müller, H.-J., H. König, und T. Prescher. 2020. „Arbeitsprozessorientierung in der Berufsausbildung von Notfallsanitäter/innen.“ Notfall und Rettungsmedizin 1-15. https://doi.org/10.1007/s10049-019-0612-2
Peran, David, Jiri Kodet, Jaroslav Pekara, Lucie Mala, Anatolij Truhlar, Patrik Cmorej, Kasper Lauridsen, Ferenc Sari, und Roman Sykora. 2020. „ABCDE cognitive aid tool in patient assessment – development and validation in a multicenter pilot simulation study.“ BMC Emergency Medicine 20, 95. https://doi.org/10.1186/s12873-020-00390-3
Schmid, Bonaventura, Florian Sauer, und Hans-Jörg Busch. 2022. „Präklinische Ersteinschätzung am Einsatzort.“ Bundesgesundheitsblatt Volume 65 979-986. https://doi.org/10.1007/s00103-022-03582-3
ERC Guidelines 2021, 2025
Links & Publikationen:

- Dieser Beitrag ist im ÖKAS Fachmagazin analyse:berg Sommer 2025 (Betrachtungszeitraum: 01.11.2023 bis 31.10.2024) erschienen.
- Chefredakteur: Peter Plattner (peter.plattner@alpinesicherheit.at)
- Abo Magazin analyse:berg Winter & Sommer
- Alpin-Fibelreihe des Kuratoriums
- Alpinmesse / Alpinforum 2025
- Kontakt ÖKAS:
Susanna Mitterer, Österreichisches Kuratorium für Alpine Sicherheit, Olympiastr. 39, 6020 Innsbruck, susanna.mitterer@alpinesicherheit.at, Tel. +43 512 365451-13
Dieser Beitrag ist auch verfügbar auf: Tschechisch Englisch Polnisch