
Die analyse:berg-Ausgaben sind vollgepackt mit nüchternen Zahlen und anonymen Unfallbeschreibungen durch die Alpinpolizei oder Sachverständige. „Alpintechnische Gutachten“ eben. Selten haben wir die Möglichkeit aus dem subjektiv Erlebten anderer zu lernen, die bei einem Lawinenunfall dabei waren. Noch seltener bei einem Unfall, bei dem ein ganz verschütteter Skitourengeher erfolgreich reanimiert wurde. Stephan Birkmaier war dieser Ganzverschüttete, sein Freund wurde teilverschüttet und führte die Reanimation durch. Beide schildern die Geschehnisse aus ihrer Perspektive.
Die Unfalllawine. Für Sonntag, den 3. April 2022 war im Gebiet Sør-Troms vom Norwegischen Lawinenwarndienst (varsom.no) die Gefahrenstufe 3 prognostiziert mit der Schlagzeile: „The avalanche danger is highest in places that have wind slabs above persistent weak layers“. Dieses Altschneeproblem wurde in allen Expositionen zwischen 400 bis 1.100 m vorhergesagt, oberhalb von 300 m von N bis SO wurde zusätzlich ein Neuschneeproblem mit Gefahrenstufe 2 ausgegeben.
Das trockene Schneebrett wurde von der Skitourengruppe im Aufstieg in einer Westflanke ausgelöst und war ca. 500 breit und ca. 250 lang. Die Schneedeckenuntersuchung ergab einen ECTP12@62cm (schwache Schneedeckenstabilität) mit einer dünnen kantig aufgebauten Schwachschicht oberhalb einer Schmelzkruste. Insgesamt wurden drei Personen teil- und eine ganz verschüttet.
Das Foto wurde nach dem Abtransport des ganz verschütteten Autors durch einen NH90 Coast Guard Hubschrauber (RoNAF) von einem nachalarmierten AW101 SAR-Hubschrauber des 330 Squadron (RoNAF) gemacht, der auch einen Flugretter abseilte, um sich nach dem Zustand der verbliebenen Gruppenmitglieder zu erkundigen.
Foto: Torgeir Kjus, Royal Norwegian Air Force (RoNAF)/330 Squadron
#1
Wie schnell das Leben doch vorbei sein kann.
Und ein Neustart ist eher die Ausnahme.
„Heute habe ich keine neurologischen Einschränkungen. Ich gehe meiner Arbeit als Anästhesist nach und merke keinerlei Beeinträchtigungen. Lediglich mein Brustbein ist nicht verheilt und erinnert mich regelmäßig – zum Beispiel beim Niesen mit Schmerzen an meinen zweiten Geburtstag.“ So beginnt dieser Beitrag von Stephan Birkmaier. Das schmerzende Brustbein stammt von der Reanimation durch einen Freund, nachdem Stephan in Norwegen zwei Meter tief verschüttet aus einer Lawine ausgegraben wurde.
Stephan Birkmaier
Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin
Vorfreude
Wir waren keine Profis, die jeden freien Tag auf die Gipfel stürmten, doch in den heimischen Alpen konnten wir uns nach einigen Lawinen-, Gletscher- und Höhenmedizinkursen immer größere Ziele setzen. In der Monte-Rosa-Region bestiegen wir einige Gipfel wie etwa die Dufourspitze. Außerhalb der Kurse waren wir stets ohne Bergführer unterwegs und trafen unsere Entscheidungen selbst.
Im April 2022 wollten wir, eine Gruppe von fünf Freunden, in Norwegen Skitouren gehen. Da wir das Gebiet nicht kannten, buchten wir eine geführte Tour über eine Bergschule.
Die Vorfreude war groß. Um in Form zu bleiben, nutzten wir jede Gelegenheit für Trainingstouren. Beim Packen meiner Ausrüstung entschied ich, meinen Airbag-Rucksack mitzunehmen. Ich gehe fast ausschließlich mit Airbag, außer bei Mehrtagestouren, wenn Platz im Rucksack fehlt.
Ein Freund, der zwei Tage vor uns flog, wurde am Flughafen allerdings darauf hingewiesen, dass seine Carbon-Patrone nicht durch die Sicherheitskontrolle durfte. Da ich denselben Rucksack hatte, wollte ich nicht riskieren, ihn auch zurückschicken zu müssen. Ich überlegte, schnell noch ein anderes Modell auszuleihen oder zu kaufen, jedoch war die Zeit sehr knapp und der Gedanke „Wir sind eine geführte Truppe und werden es sicher locker angehen“, ließ mich den Airbag daheimlassen – eine fatale Fehlentscheidung.
Norwegen
Unsere Anreise verlief problemlos und die Lodges lagen grandios direkt am Meer mit atemberaubendem Blick auf Wasser und steile Berge. Neben unserer Gruppe war noch eine zweite von derselben Bergschule angereist. Jede hatte ihren eigenen Bergführer, aber wir unternahmen die Touren gemeinsam.
Am Abend vor den Touren saßen alle Teilnehmer und Bergführer zusammen, um die Lage zu besprechen. Die erste Tour war wegen schlechten Wetters und schlechter Sicht unspektakulär. Doch der Wetterbericht versprach für den nächsten Tag strahlenden Sonnenschein, jedoch mit starkem Wind – unsere Gelegenheit, die Gegend zu erkunden. In der Vorbesprechung berücksichtigten wir Schneeverfrachtungen und wählten eine flache Aufstiegsspur abseits steiler Hänge.
Unfalltag
Am folgenden Morgen standen wir in traumhafter Kulisse in einer der schönsten Gegenden Norwegens, dem Ånderdalen Nationalpark. Schon am Vortag zeigte sich ein Unterschied in Erfahrung und Fitness unserer beiden Gruppen. Auch an diesem Tag waren wir deutlich schneller und ließen die zweite Gruppe bald weit hinter uns.
Um das Warten im kalten Wind angenehmer zu gestalten, schlug unser Bergführer vor, einen kleinen Abstecher auf einen umliegenden Hang zu machen und später zur ursprünglichen Route zurückzukehren. Er überprüfte auf dem Handy die Hangneigung und zwei meiner Kollegen gesellten sich dazu. Die Entscheidung, den Anstieg zu wagen, wurde also gemeinschaftlich gefällt.
Kurz darauf standen wir am Fuße des Hangs, der nun deutlich imposanter wirkte als einige Minuten zuvor. Ehrlich gesagt, wären wir allein unter Freunden unterwegs, würden wir ihn nicht betreten. Ich sprach mein Unbehagen bei einem meiner Freunde an, wir diskutierten und überlegten, doch der Bergführer wirkte kompetent und zuversichtlich. Also gingen wir weiter und teilten unser ungutes Gefühl nicht mit den anderen.
Nach wenigen Kehren ordnete der Bergführer an, 15 Meter Sicherheitsabstand einzuhalten. Mein ungutes Gefühl ließ mich nicht los. Ich sprach mit einem anderen Kollegen darüber, doch auch er vertraute darauf, dass der Bergführer die Lage besser einschätzen kann als wir. Kurz überlegte ich, allein umzudrehen, doch mein Stolz hielt mich davon ab. Zwei Minuten später erlebte ich die Folgen dieser Entscheidung.
Die Skitour. Geplant war der Aufstieg zum Kvænan (964 m), einem beliebten Skitourengipfel auf Senja, der zweitgrößten norwegischen Insel etwa 350 km nördlich des Polarkreises, die zur Provinz Troms gehört. Der Gipfel dieses Ziels ist auf dem Foto im oberen rechten Eck im Hintergrund zu erahnen. Die erste schnellere Gruppe beschloss als ungeplantes Zwischenziel nach „links“ in ein Becken abzubiegen, aufzusteigen, abzufahren und dann mit der zweiten Gruppe gemeinsam weiter auf den Kvænan zu gehen. Während des Aufstiegs löste sie das Schneebrett aus. — Das Foto entstand beim Anflug des nachalarmierten SAR-Hubschrauber des 333 Squadron, nachdem der ganz verschüttete Skitourengeher von einem anderen Hubschrauber bereits ausgeflogen worden war.
Foto: Torgeir Kjus, Royal Norwegian Air Force (RoNAF)/330 Squadron
Lawinenverschüttung
Man kann den Moment, die Eindrücke und Gefühle schwer in Worte fassen oder jemandem beschreiben, der eine Lawine noch nicht erlebt hat. Der Ton, dieses tiefe Wummern, wenn sich der Schnee setzt. Die Augen, die Halt suchen in einem Meer aus fließendem Schnee. Der Körper, der innerlich durch die Vibrationen bebt. In solchen Situationen fühlt man die gewaltige Energie der Natur, in der ein Mensch einfach nichts ist.
Nun stehe ich hier mit der Erkenntnis, dass ich das erste Mal eine Lawine erleben werde. Dass sie direkt auf mich zurollt, macht es nicht besser. Was mein Verstand nicht begreift, ist die Tatsache, dass mein ganzes Blickfeld von der Lawine eingenommen wird, nicht nur ein Teil des Hanges, der ins Rutschen gekommen war und wo man mit Glück noch rausfahren hätte können. Nein, es ist der ganze Hang, von ganz oben bis direkt vor mir, von links nach rechts. Alles spielt sich vor meinen Augen ab und kommt unaufhaltsam auf mich zu. Es scheint, als würde die Zeit kurz langsamer laufen. Mit den beschriebenen Eindrücken von oben ist das einfach… erschütternd!
„Unter der Lawine ist es unvorstellbar einsam. Einfach nur dunkel und still. Wie am Ende einer unendlich langen Einbahnstraße, aus der man allein nicht rauskommt.“
Das alles realisiert man innerhalb von Sekundenbruchteilen. Ich rechne mir noch maximal zwei bis drei Sekunden aus, bis die Lawine mich erfassen wird. Umdrehen und wegfahren erscheint mir wie ein schlechter Witz. Ich weiß, dass ich in wenigen Augenblicken von einer riesigen Lawine mitgerissen werde.
Als ich diese Tatsache akzeptiere, stellt sich eine unerwartete Ruhe in meinem Verstand ein. Ich habe keinen Zweifel daran, was ich als Nächstes tun muss. Ich werfe die Stöcke weit von mir weg, bücke mich nach unten und entriegle die Skibindung. Die erste kalte Luftwelle ist bereits in meinem Nacken spürbar und aus dem Augenwinkel sehe ich, dass die Lawine nur noch fünf Meter entfernt ist. Ich schaffe es gerade noch, die Jacke über mein Gesicht zu ziehen, als die Lawine mich mit unbeschreiblicher Kraft mitreißt.
Sie dreht mich in alle Richtungen, bis ich die Orientierung vollständig verliere. Wer glaubt, man könne in einer Lawine Schwimmbewegungen machen, irrt. Ich versuche mit aller Kraft, die Jacke auf mein Gesicht zu pressen, damit kein Schnee in meine Atemwege eindringt. Es geht weiter bergab, ich werde unaufhörlich herumgeschleudert, bis ich nach einer scheinbaren Ewigkeit zum Stillstand komme.
Der Aufstieg von einem Gruppenmitglied fotografiert: Schneefegen und Windfahnen an den Graten.
Foto: Johannes Reiner
Die Erleichterung ist unermesslich – ich habe es geschafft, keinen Schnee in Mund oder Nase bekommen zu haben. Der Druck auf meinen Körper ist unter den Schneemassen aber so enorm, dass selbst ohne Schnee in Mund und Nase das Atmen kaum möglich ist. Es fühlt sich an, als würde ich die Luft in der Luftröhre nur noch hin und her schieben können. Ich höre, dass sich Teile der Lawine noch bewegen und Sekunden später schieben sich weitere Schneemassen über mich. Der Druck wird so enorm stark, dass er mir die letzte verbliebene Luft aus den Lungen presst. Jegliche Bewegung ist ausgeschlossen. Selbst das Wackeln mit einer Fingerspitze ist utopisch.
Es ist still und dunkel, als wären Schall und Licht nicht mehr existent. Nur mein Versuch zu atmen verursacht schluckende Geräusche, ansonsten höre ich nur noch meine Gedanken. Unter der Lawine ist es unvorstellbar einsam. Einfach nur dunkel und still. Wie am Ende einer unendlich langen Einbahnstraße, aus der man allein nicht rauskommt. Und dazu dieser atemraubende Druck.
Mir kommt der Gedanke, dass unter diesen Umständen viele vor mir gestorben sind. Dass ich jetzt sterben werde, kommt mir nicht in den Sinn. Stattdessen treffe ich eine Entscheidung: Heute ist nicht der Tag, an dem es vorbei ist. Vor meinem inneren Auge ziehen keine dramatischen Bilder vorbei, wie man es aus Filmen kennt – nur Dunkelheit, absolute Stille und meine Gedanken.
Ich sage mir, dass ich einfach durchhalten muss, bis meine Kollegen mich finden und ausgraben. Wie tief ich verschüttet bin oder ob sie ebenfalls betroffen sind, weiß ich nicht. Doch für mich steht fest: Ich muss nur noch ein wenig durchhalten – sie werden mich finden und ausgraben.
Dann war ich weg.
Aufwachen
Ich kam auf der Lawine wieder zu mir. Wann genau ich das Bewusstsein verloren habe, kann ich nicht sagen – es ist, als würde man sich daran erinnern wollen, was man in den letzten Minuten vor dem Einschlafen gedacht hat. Das Aufwachen allerdings fühlte sich völlig anders an als nach einem kurzen Mittagsschlaf in der Sonne.
Mein Körper schmerzte zwar nicht, ich konnte auch wieder atmen, doch mein Kopf war benommen. Und vor allem: Ich fror wie noch nie zuvor in meinem Leben. Meine Freunde hüllten mich sofort in Jacken und Decken, versuchten mich zu wärmen und redeten auf mich ein. Immer wieder hörte ich, wie froh sie seien, dass ich zurückgekommen war – nach der Reanimation.
Ich verstand das nicht. Für mich war ja klar: Ich musste einfach nur kurz durchhalten, bis sie mich ausgraben. Dass ich tatsächlich wiederbelebt werden musste, glaubte ich nicht. Ich habe selbst Menschen reanimiert – und deren erste Beschwerde war nie, dass ihnen kalt ist.
Ein erster eintreffender – für norwegische Verhältnisse „kleiner“ – Notarzthubschrauber versuchte mehrmals bei uns zu landen. Leider vergebens (es stellte sich später heraus, dass der Wind für ihn zu stark war). Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis schließlich ein Hubschrauber (NH-90) der Coast Guard kam und einen Flugretter ablassen konnte. Mit diesem sprach ich dann auf Englisch, erklärte, dass es mir so weit gut gehe, ich nur extrem friere. Ich wurde in einen Bergesack eingepackt und schließlich mit einer Seilwinde hochgezogen.
Auf dem Flug fragte mich der Rettungsschwimmer und Paramedic, ob ich denn reanimiert worden sei, was ich logischerweise verneinte.
Später erfuhr ich, dass – nachdem ich ausgeflogen worden war – noch ein zweiter Hubschrauber der norwegischen Luftstreitkräfte (330 Squadron) kam und einen Flugretter abwinschte, um zu sehen, ob es der restlichen Gruppe gut gehe. Dem war so und sie fuhren mit den Skiern selbstständig ab.
„Ich fror wie noch nie zuvor in meinem Leben.“
Krankenhaus
Am Krankenhaus in Tromsø eintreffend wurde ich im Schockraum von einem Kollegen untersucht und gefragt, woran ich mich erinnern könne. Ich erzähle ihm meine Version der Geschichte.
Erst als das CT gefahren wurde und man einen Bruch des Brustbeines und mehrerer Rippen mit begleitender Lungenkontusion feststellte, fing ich an zu realisieren, was eigentlich passiert war. Es war fünf nach zwölf und meine Uhr wurde nochmal zurückgestellt.
Der weitere Verlauf im Krankenhaus ist aus Sicht eines Arztes unauffällig. Aus Sicht eines Patienten schmerzhaft, nervenaufreibend und bedingt sinnvoll. Weil ich Arzt bin und einen multiresistenten Krankenhaus-Keim haben könnte, musste ich in einem Isolationszimmer liegen. Die Intensivstation war voll und folglich landete ich in einem Stationszimmer ohne Überwachung. Das Pflegepersonal kam während des Tages zweimal in mein Zimmer… Da ich mir sicher war, in der Lodge besser „überwacht“ zu werden, entließ ich mich am nächsten Tag auf eigene Verantwortung selbst.
Lodge
In der Lodge wurde ich von den anderen herzlichst empfangen. Wir hatten eine gute Zeit.
Die Bergführer hatten sich für den Abend als Programm überlegt, gemeinsam den Lawinenunfall zu besprechen. So weit so gut. Es wurde allerdings mehr ein Lawinenvortrag für die eher unerfahrenere Gruppe… Jedenfalls ein etwas „komisches“ Programm für meinen ersten Abend zuhause.
Aber wie empfängt man einen, der gerade seinen zweiten Geburtstag hatte? Vielleicht war es einfach die Hilflosigkeit der Bergführer und so hatten sie ein Programm, das sie kannten und vortragen konnten. Der Lawinenunfall wurde so dargestellt, dass es schicksalhaft passiert sei und man ihn nicht vorhersehen hätte können.
Am nächsten Tag machte sich die Gruppe – bis auf Phil – wieder auf den Weg zu einer Skitour. Für mich hatte der vorherige Abend gezeigt, dass ich hier fehl am Platz war. Ich organisierte mir einen Rücktransport und landete 48 Stunden später wieder in Innsbruck.
Learnings
Meine wichtigsten Lektionen nach diesem Lawinenunfall sind:
→ Jeder trägt stets die volle Verantwortung für seine Entscheidungen und auch etwas nicht zu machen, ist eine Entscheidung.
→ Vertraue auf deine Intuition – sie kann über dein Leben entscheiden.
→ Was andere über dich denken, darf nie eine Rolle spielen, vor allem nicht in kritischen Momenten.
→ Triff deine Risikoeinschätzung anhand der Konsequenzen (z. B. Airbag-Rucksack evtl. am Flughafen abgenommen vs. Lawinenunfall).
→ Lebe dein Leben – du hast nur eins und bekommst selten ein zweites geschenkt.
PS: Die Fakten zum Lawinenunfall:
→ Nach 5 Minuten Signal geortet.
→ Sondentreffer in 2 Meter Tiefe am Skischuh, mit dem Kopf an tiefster Position.
→ 20 Minuten bis zum vollständigen Ausgraben.
→ 5 Minuten lang Reanimation.
→ Ca. 30 Minuten bis zum Eintreffen des ersten Hubschraubers. → Ca. 60 Minuten bis zum Eintreffen des zweiten Hubschraubers (Coast Guard).
→ Ca. 75 Minuten bis zum Abtransport mit dem Hubschrauber.
#2
Skitouren in Norwegen. Zwischen Faszination und Lebensgefahr.
Die Begeisterung für den Skisport wurde mir in die Wiege gelegt. Unzählige Winter verbrachte ich mit meiner Familie in den Alpen, wo meine Leidenschaft für das Skifahren wuchs. Sie führte mich schließlich auch zum Studium nach Innsbruck, wo ich das Freeriden und Skitourengehen für mich entdeckte. Die Suche nach neuen Herausforderungen trieb mich weiter hinaus in die Welt: Japan, Kanada – immer auf der Jagd nach dem perfekten Tiefschnee.
Philipp Renz
Facharzt für Innere Medizin und
Kardiologie, Intensivmediziner
Doch mit der Zeit störte mich der zunehmende Hype um das Off-Piste-Fahren. Überfüllte Spots und ein Massenandrang an Freeridern, das entsprach nicht meiner Vorstellung eines authentischen Naturerlebnisses. Mein Bruder, einige Freunde und ich beschlossen daher, abseits der bekannten Hotspots neue Wege zu gehen. Unsere Wahl fiel auf Norwegen. Eine Skitourenagentur bot geführte Touren in entlegene Regionen an. Eine perfekte Gelegenheit, die unberührte Wildnis Skandinaviens zu erleben.
Die Illusion, ein einzigartiges Abenteuer zu erleben, wurde mir schon am Münchner Flughafen genommen. Ein Blick ins Flugzeug genügte: Überall bunte Pommelmützen und Beanies, auf den zauseligen Köpfen zahlreicher Skibums …
Ein perfekter Start – trügerische Sicherheit
Die Bedingungen vor Ort waren verheißungsvoll: Frischer Pulverschnee bis zum Tag unserer Ankunft. Doch die Kombination aus Neuschnee und starkem Wind ließ erhöhte Lawinengefahr vermuten. Die erste Tour war deshalb kurz und diente der Orientierung. Schneeprofile wurden gegraben, Strategien besprochen – alles mit Bedacht. Für den nächsten Tag war bestes Wetter angesagt.
Unsere Guides bekamen den Tipp, eine Tour auf den Kvænan zu unternehmen, einen Gipfel mit atemberaubender Aussicht auf das Meer. Um 8:30 Uhr brachen wir auf, fuhren die Küste entlang und teilten uns in zwei Gruppen auf, jede mit einem Bergführer. Der Tag war sonnig, aber eisiger Wind blies uns vom Meer entgegen. Aber die Vorfreude auf die erste Tiefschneeabfahrt mit Blick aufs Wasser ließ uns die Kälte vergessen.
Schon nach wenigen hundert Metern erarbeitete sich unsere Gruppe einen Vorsprung. Als wir ein Hochplateau erreichten, lag der eigentliche Gipfel des Kvænan hinter einem Bergsattel. Direkt vor uns jedoch ragte ein vorgelagerter, kleinerer Gipfel auf. Der Plan war, den Kvænan gemeinsam mit der zweiten Gruppe zu besteigen, was bedeutete entweder in der Kälte zu warten oder aber den vorgelagerten Gipfel als Zwischenziel zu erklimmen – abweichend vom ursprünglichen Plan. Wir entschieden uns für die zweite Option. Ein Beschluss, den wir gemeinsam trafen, wenn auch beeinflusst durch eine gewisse Gruppendynamik. Mein Freund Steph äußerte Zweifel. Ich schüttelte diese ohne lange zu überlegen ab, schließlich waren wir mit einem staatlich geprüften Bergführer unterwegs.
„Ich schüttelte die Zweifel ohne lange zu überlegen ab, schließlich waren wir mit einem staatlich geprüften Bergführer unterwegs.“
Der Moment, der alles veränderte
Unser Anstieg führte zunächst flach in einen Kessel. Die Hangneigung erschien unkritisch. Wir folgten dem Bergführer und hielten einen Abstand von 10 bis 15 Metern zueinander. Ein Umstand, den ich nicht hinterfragte. Der Wind war für uns im Kessel kaum spürbar, doch am Bergkamm konnte man die Schneeverwehungen beobachten.
Dann geschah es.
Ein dumpfes, tiefes Geräusch. Ich sah, wie sich ein riesiges Schneebrett über nahezu die gesamte rechtsseitige Flanke des Kessels löste und in unsere Richtung raste.
Reflexartig drehte ich mich um und versuchte zu fliehen. Mit Fellen. Ich stolperte, richtete mich wieder auf, fuhr los und löste instinktiv meinen Lawinenairbag aus. Sekunden später erfasste mich die Lawine. Schneemassen rissen mich mit, ließen mich eintauchen, doch ich wurde nicht vollständig verschüttet.
Als alles zum Stillstand kam, war die Welt plötzlich gespenstisch still. Dann durchbrach die Stimme unseres Bergführers die Stille: „Alle Pieps sofort ausmachen!“
Ich riss mich zusammen, suchte meinen Bruder – er hatte sich retten können. Zwei Teilnehmer unserer Gruppe steckten bis zum Kopf oder Oberkörper in der Lawine. Einer fehlte.
Wettlauf mit der Zeit
Die Suche begann. Unser Bergführer koordinierte das Vorgehen. Zunächst wurden die Teilverschütteten markiert, die sich nicht selbst befreien konnten. Hierfür mussten wir einige Meter den Lawinenkegel hinabfahren, um diese zur erreichen. Erst dann konnten wir uns auf das letzte Signal konzentrieren.
Das LVS-Signal führte uns wieder einige Meter hangaufwärts. Unsere zweite Gruppe und eine französische Tourengruppe erreichten die Unfallstelle und halfen mit. Das Signal konnte auf wenige Zentimeter eingegrenzt werden. Wir begannen mit dem Sondieren. Dann – ein Treffer: Zwei Meter tief.
Wir gruben mit aller Kraft. Es war unwahrscheinlich viel Schnee. Mit jeder Schaufelladung, die wir entfernten, wuchs die Erschöpfung und die Angst: Würden wir ihn rechtzeitig erreichen? Wir motivierten uns lautstark nicht aufzugeben, weiter zu buddeln.
Dann tauchte ein Skischuh auf. Dann der Rucksack. Schließlich sein Körper. Er lag bäuchlings, das Gesicht im Schnee.
Ich drehte ihn um. Sein Gesicht war grau, die Lippen blau. Kein Puls. Kein Lebenszeichen.
„Alle wussten: Jede Sekunde zählt.“
Reanimation am Berg – ein Kampf ums Leben
Ohne zu zögern, begann ich mit der Reanimation: 30 Thoraxkompressionen – 2 Beatmungen. Routine aus unzähligen Einsätzen auf der Intensivstation setzte ein. Ein weiterer Mediziner aus der Gruppe übernahm die Beatmung, dann wechselten wir uns ab. Nach neun Zyklen, etwa viereinhalb Minuten später, ein Stöhnen.
Er atmete. Schwach, aber er atmete. Ich konnte seinen Puls tasten. Wir legten ihn sofort in die stabile Seitenlage und versuchten ihn mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zuzudecken. Mit jeder Minute stabilen Kreislaufs kam er mehr und mehr zu sich. Irgendwann öffnete er die Augen, versuchte zu sprechen. „Mir ist kalt.“ Die Erleichterung war nicht in Worte zu fassen.
Ein Helikopter tauchte auf, kreiste über uns. Es wurde unfassbar kalt. Er zog jedoch wieder ab, die Verhältnisse waren zu schlecht für eine Landung. Erst 30 Minuten später ließ ein zweiter Helikopter einen Rettungssanitäter ab. Wieder eisig kalt für mehrere Minuten. Unser Freund wurde eingepackt, an Bord gewinscht und nach Tromsø geflogen.
Wir blieben zurück. Stille legte sich über den Lawinenkegel. Dann überkam es mich: Angst, Erleichterung, Schock.
Ich ließ den Tränen freien Lauf.
Nachhall einer Grenzerfahrung
Unser Freund überlebte glücklicherweise ohne größere Folgeschäden. Ein Wunder, wenn man bedenkt, dass es fast 20 Minuten dauerte, bis er ausgegraben war. Doch dieser Tag hat sich in meine Erinnerung eingebrannt.
Skitourengehen in Norwegen. Das klang nach einem Traum. Doch dieser Trip hat mir gezeigt, wie schmal der Grat zwischen Faszination und Lebensgefahr ist. Trotz Erfahrung, trotz entsprechender Ausrüstung und professioneller Bergführer kann die Natur jederzeit die Kontrolle übernehmen.
Ich liebe den Skisport. Und ich werde vermutlich weiter auf Touren gehen. Als Ehemann und Vater dreier Kinder zählt aber mehr denn je: Respekt ist wichtiger als jede Gipfelbesteigung.
In den Bergen ist kein Raum für Übermut. Besonnenheit und Reflexion sind das Credo in jeder Situation.
„Und die wichtigste Entscheidung am Berg ist oft die, rechtzeitig umzukehren, wenn einen das Bauchgefühl warnt.“
Auch wenn manche Entscheidungen vor dem Lawinenabgang anders hätten ausfallen sollen ab dem Moment der Lawine ist alles nahezu perfekt abgelaufen. Nur deshalb kann ich diesen Artikel heute schreiben. Dieser Artikel bringt hoffentlich vielen anderen neue Erkenntnisse. Wenn auch nur ein Mensch dadurch in Zukunft eine bessere Entscheidung trifft oder auf sein Bauchgefühl hört, dann hat sich das Aufschreiben dieser Erfahrung gelohnt. Denn am Ende geht es nie um den Gipfel – sondern darum, gesund nach Hause zu kommen.
An dieser Stelle möchte ich mich bei allen Helfern von ganzem Herzen bedanken! Bei allen, die mich in einer Rekordzeit ausgegraben haben, bei der Crew der Norwegischen Küstenrettung, die mich trotz widriger Bedingungen retten konnte, bei den Kollegen der Uniklinik Tromsø und der Airambulanz Tirol. Ebenso auch bei Hubsi, Walter und Paul, mit denen ich den Vorfall im Nachgang offen und ehrlich aufarbeiten konnte. Besonderer Dank auch unserem Bergführer für seine lehrbuchhafte, professionelle Bergung und seine unermüdliche Schaufelarbeit.
Und ganz besonders bei meinem Freund Phil, dem ich mein neues Leben verdanke. Er hat in einem Moment voller Stress nicht gezögert, sondern ruhig und entschlossen gehandelt. Seine Erfahrung, Ruhe und Entschlossenheit haben mir das Leben gerettet. Dafür bin ich ihm von Herzen dankbar.
Links & Publikationen:
- Dieser Beitrag ist im ÖKAS Fachmagazin analyse:berg Sommer 2025 (Betrachtungszeitraum: 01.11.2023 bis 31.10.2024) erschienen.
- Chefredakteur: Peter Plattner (peter.plattner@alpinesicherheit.at)
- Abo Magazin analyse:berg Winter & Sommer
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- Kontakt ÖKAS:
Susanna Mitterer, Österreichisches Kuratorium für Alpine Sicherheit, Olympiastr. 39, 6020 Innsbruck, susanna.mitterer@alpinesicherheit.at, Tel. +43 512 365451-13
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