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Unfalllawine Norwegen, analyse:berg Winter 2024/25

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Die analyse:berg-Ausgaben sind vollgepackt mit nüchternen Zahlen und anonymen Unfallbeschreibungen durch die Alpinpolizei oder Sachverständige. „Alpintechnische Gutachten“ eben. Selten haben wir die Möglichkeit aus dem subjektiv Erlebten anderer zu lernen, die bei einem Lawinenunfall dabei waren. Noch seltener bei einem Unfall, bei dem ein ganz verschütteter Skitourengeher erfolgreich reanimiert wurde. Stephan Birkmaier war dieser Ganzverschüttete, sein Freund wurde teilverschüttet und führte die Reanimation durch. Beide schildern die Geschehnisse aus ihrer Perspektive.
Unfalllawine Norwegen, analyse:berg Winter 2024/25

Die Unfalllawine. Für Sonntag, den 3. April 2022 war im Gebiet Sør-Troms vom Norwegischen Lawinenwarndienst (varsom.no) die Gefahrenstufe 3 prognostiziert mit der Schlagzeile: „The avalanche danger is highest in places that have wind slabs above persistent weak layers“. Dieses Altschneeproblem wurde in allen Expositionen zwischen 400 bis 1.100 m vorhergesagt, oberhalb von 300 m von N bis SO wurde zusätzlich ein Neuschneeproblem mit Gefahrenstufe 2 ausgegeben.
Das trockene Schneebrett wurde von der Skitourengruppe im Aufstieg in einer Westflanke ausgelöst und war ca. 500 breit und ca. 250 lang. Die Schneedeckenuntersuchung ergab einen ECTP12@62cm (schwache Schneedeckenstabilität) mit einer dünnen kantig aufgebauten Schwachschicht oberhalb einer Schmelzkruste. Insgesamt wurden drei Personen teil- und eine ganz verschüttet.
Das Foto wurde nach dem Abtransport des ganz verschütteten Autors durch einen NH90 Coast Guard Hubschrauber (RoNAF) von einem nachalarmierten AW101 SAR-Hubschrauber des 330 Squadron (RoNAF) gemacht, der auch einen Flugretter abseilte, um sich nach dem Zustand der verbliebenen Gruppenmitglieder zu erkundigen.
Foto: Torgeir Kjus, Royal Norwegian Air Force (RoNAF)/330 Squadron

#1
Wie schnell das Leben doch vorbei sein kann.
Und ein Neustart ist eher die Ausnahme.

„Heute habe ich keine neurologischen Einschränkungen. Ich gehe meiner Arbeit als Anästhesist nach und merke keinerlei Beeinträchtigungen. Lediglich mein Brustbein ist nicht verheilt und erinnert mich regelmäßig – zum Beispiel beim Niesen mit Schmerzen an meinen zweiten Geburtstag.“ So beginnt dieser Beitrag von Stephan Birkmaier. Das schmerzende Brustbein stammt von der Reanimation durch einen Freund, nachdem Stephan in Norwegen zwei Meter tief verschüttet aus einer Lawine ausgegraben wurde.

Stephan Birkmaier
Facharzt für Anästhesie und Intensivmedizin

Vorfreude

Wir waren keine Profis, die jeden freien Tag auf die Gipfel stürmten, doch in den heimischen Alpen konnten wir uns nach einigen Lawinen-, Gletscher- und Höhenmedizinkursen immer größere Ziele setzen. In der Monte-Rosa-Region bestiegen wir einige Gipfel wie etwa die Dufourspitze. Außerhalb der Kurse waren wir stets ohne Bergführer unterwegs und trafen unsere Entscheidungen selbst.
Im April 2022 wollten wir, eine Gruppe von fünf Freunden, in Norwegen Skitouren gehen. Da wir das Gebiet nicht kannten, buchten wir eine geführte Tour über eine Bergschule.
Die Vorfreude war groß. Um in Form zu bleiben, nutzten wir jede Gelegenheit für Trainingstouren. Beim Packen meiner Ausrüstung entschied ich, meinen Airbag-Rucksack mitzunehmen. Ich gehe fast ausschließlich mit Airbag, außer bei Mehrtagestouren, wenn Platz im Rucksack fehlt.
Ein Freund, der zwei Tage vor uns flog, wurde am Flughafen allerdings darauf hingewiesen, dass seine Carbon-Patrone nicht durch die Sicherheitskontrolle durfte. Da ich denselben Rucksack hatte, wollte ich nicht riskieren, ihn auch zurückschicken zu müssen. Ich überlegte, schnell noch ein anderes Modell auszuleihen oder zu kaufen, jedoch war die Zeit sehr knapp und der Gedanke „Wir sind eine geführte Truppe und werden es sicher locker angehen“, ließ mich den Airbag daheimlassen – eine fatale Fehlentscheidung.

Norwegen

Unsere Anreise verlief problemlos und die Lodges lagen grandios direkt am Meer mit atemberaubendem Blick auf Wasser und steile Berge. Neben unserer Gruppe war noch eine zweite von derselben Bergschule angereist. Jede hatte ihren eigenen Bergführer, aber wir unternahmen die Touren gemeinsam.
Am Abend vor den Touren saßen alle Teilnehmer und Bergführer zusammen, um die Lage zu besprechen. Die erste Tour war wegen schlechten Wetters und schlechter Sicht unspektakulär. Doch der Wetterbericht versprach für den nächsten Tag strahlenden Sonnenschein, jedoch mit starkem Wind – unsere Gelegenheit, die Gegend zu erkunden. In der Vorbesprechung berücksichtigten wir Schneeverfrachtungen und wählten eine flache Aufstiegsspur abseits steiler Hänge.

Unfalltag

Am folgenden Morgen standen wir in traumhafter Kulisse in einer der schönsten Gegenden Norwegens, dem Ånderdalen Nationalpark. Schon am Vortag zeigte sich ein Unterschied in Erfahrung und Fitness unserer beiden Gruppen. Auch an diesem Tag waren wir deutlich schneller und ließen die zweite Gruppe bald weit hinter uns.
Um das Warten im kalten Wind angenehmer zu gestalten, schlug unser Bergführer vor, einen kleinen Abstecher auf einen umliegenden Hang zu machen und später zur ursprünglichen Route zurückzukehren. Er überprüfte auf dem Handy die Hangneigung und zwei meiner Kollegen gesellten sich dazu. Die Entscheidung, den Anstieg zu wagen, wurde also gemeinschaftlich gefällt.
Kurz darauf standen wir am Fuße des Hangs, der nun deutlich imposanter wirkte als einige Minuten zuvor. Ehrlich gesagt, wären wir allein unter Freunden unterwegs, würden wir ihn nicht betreten. Ich sprach mein Unbehagen bei einem meiner Freunde an, wir diskutierten und überlegten, doch der Bergführer wirkte kompetent und zuversichtlich. Also gingen wir weiter und teilten unser ungutes Gefühl nicht mit den anderen.
Nach wenigen Kehren ordnete der Bergführer an, 15 Meter Sicherheitsabstand einzuhalten. Mein ungutes Gefühl ließ mich nicht los. Ich sprach mit einem anderen Kollegen darüber, doch auch er vertraute darauf, dass der Bergführer die Lage besser einschätzen kann als wir. Kurz überlegte ich, allein umzudrehen, doch mein Stolz hielt mich davon ab. Zwei Minuten später erlebte ich die Folgen dieser Entscheidung.

Lawinenabgang Norwegen, analyse:berg Winter 2024/25

Die Skitour. Geplant war der Aufstieg zum Kvænan (964 m), einem beliebten Skitourengipfel auf Senja, der zweitgrößten norwegischen Insel etwa 350 km nördlich des Polarkreises, die zur Provinz Troms gehört. Der Gipfel dieses Ziels ist auf dem Foto im oberen rechten Eck im Hintergrund zu erahnen. Die erste schnellere Gruppe beschloss als ungeplantes Zwischenziel nach „links“ in ein Becken abzubiegen, aufzusteigen, abzufahren und dann mit der zweiten Gruppe gemeinsam weiter auf den Kvænan zu gehen. Während des Aufstiegs löste sie das Schneebrett aus. — Das Foto entstand beim Anflug des nachalarmierten SAR-Hubschrauber des 333 Squadron, nachdem der ganz verschüttete Skitourengeher von einem anderen Hubschrauber bereits ausgeflogen worden war.
Foto: Torgeir Kjus, Royal Norwegian Air Force (RoNAF)/330 Squadron

Lawinenverschüttung
Man kann den Moment, die Eindrücke und Gefühle schwer in Worte fassen oder jemandem beschreiben, der eine Lawine noch nicht erlebt hat. Der Ton, dieses tiefe Wummern, wenn sich der Schnee setzt. Die Augen, die Halt suchen in einem Meer aus fließendem Schnee. Der Körper, der innerlich durch die Vibrationen bebt. In solchen Situationen fühlt man die gewaltige Energie der Natur, in der ein Mensch einfach nichts ist.


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